Der israelische Wirtschaftswissenschaftler Shir Hever sprach in Leipzig über die Ursachen der Besatzung Palästinas und den Kriegen im Gazastreifen.
Am 17. September 2014 lud der Leipziger AK Nahost zu einer Informationsveranstaltung mit dem israelischen Wirtschaftswissenschaftler Shir Hever im Neuen Schauspiel ein. Die Veranstaltung mit dem Titel „Gaza – wen interessiert’s?“ hatte zum Ziel, fern von essentialistischen Kategorisierungen den realen politischen und wirtschaftlichen Ursachen des Gaza-Konfliktes auf den Grund zu gehen.
Shir Hever, der an der FU Berlin über die Privatisierung der Sicherheitsindustrie der israelischen Besatzung promoviert, ging in seinem Vortrag im Besonderen auf die internationalen Verflechtungen nationaler Waffenindustrien ein, um zu veranschaulichen, dass die Gaza-Kriege ganz reale wirtschaftliche Ursachen haben. In seinem Vortrag veranschaulichte Hever, dass eine gesamte Industrie von regelmäßigen Angriffen auf den abgeriegelten Gazastreifen abhängig ist.
Israel hat die militarisierteste Wirtschaft der Welt
Der auf Empirie basierende Vortrag machte an Exportzahlen deutlich, dass der israelische Staat im weltweiten Ranking der größten Waffenproduzenten und -exporteure erst weit nach den USA und auch nach der Bundesrepublik gelistet sei, die israelische Wirtschaft jedoch im internationalen Vergleich am stärksten von der militärischen Industrie abhänge. “Israel is probably the most militarized economy in the world“, stellte Shir Hever fest. Etwa 150 Tausend israelische Haushalte lebten von der Waffenindustrie. Doch auch auf den politischen Diskurs der israelischen Eliten ging Hever während seines Vortrags ein, so beschrieb er zwei Denkschulen bezüglich der Waffenindustrie, die sich nach der israelischen Staatsgründung etabliert hätten: Die erste Denkschule, der der spätere MP Peres angehörte, habe für eine autarke israelische Waffenindustrie argumentiert, während die mit dem späteren, ermordeten Rabin verbundene Denkschule glaubte, dass Handel und eine Spezialisierung der eigenen Waffenindustrie am vorteilhaftesten sei. Zwar habe sich zunächst nach dem Juli-Krieg von 1967 die erste Denkschule Peres‘ durchgesetzt, da die israelische Führung damals noch davon überzeugt gewesen sei, dass die Internationale Gemeinschaft die mit dem Krieg begonnene völkerrechtswidrige Besatzung der palästinensischen Gebiete des Westjordanlandes und des Gazastreifens nicht akzeptieren würde, doch habe sich nach der Erkenntnis des Gegenteils und im Besonderen nach dem Krieg von 1973 letzten Endes doch Rabins Denkschule durchgesetzt. Es habe sich nämlich gezeigt, dass die USA begannen, den israelischen Staat gratis mit Waffen zu beliefern.
Der Hauptprofiteur der Gaza-Kriege ist die US-amerikanische Waffenindustrie
Die Frage nach den Hauptprofiteuren der israelischen Kriege beantwortete der israelische Wirtschaftswissenschaftler ganz eindeutig: Die US-amerikanische Waffenindustrie profitiere am stärksten von den Kriegen gegen den Gazastreifen. Denn die amerikanische Regierung unterstütze den israelischen Staat nicht mit 3 Milliarden Dollar in Geldscheinen, sondern in Krediten, die Israel nur bei amerikanischen Waffenfirmen einlösen könne. Nicht die Israel-Lobby (AIPAC, J Street), die pro Wahlperiode im Schnitt nur 20 bis 30 Millionen Dollar ausgeben könne, setze real die US-amerikanische Unterstützung des israelischen Staates durch, sondern die amerikanische Waffenindustrie, deren finanzielle Mittel für PR und Lobbyismus diejenigen der Israel-Lobby bei weitem überstiegen. Hever machte deutlich, dass die amerikanische Waffenindustrie nicht im Entferntesten ein Interesse an einem Ende des Konfliktes im Nahen Osten habe, da Israel ihren sichersten Absatzmarkt darstelle.
Neben den Hauptprofiteuren, den US-amerikanischen Waffenfirmen, profitiere eine Minderheit innerhalb Israels an der illegalen Besatzung der palästinensischen Gebiete und den Angriffen auf Gaza. Doch der Großteil der Bevölkerung, so Hever, leide unter sozialen Missständen und poche auf die Aufrechterhaltung des status quo, um zumindest innerhalb des Apartheidssystems zur privilegierten Gruppe zu zählen. Zu den Profiteuren der Besatzung und Kriege gehörten zum einen die israelische Waffenindustrie, und zum anderen israelische Offiziere, die als Waffenhändler arbeiteten.
Das Westjordanland als Experimentierfeld für israelische Sicherheitsfirmen
Laut Hever wird die Besatzung der palästinensischen Gebiete aus wirtschaftlichen Gründen aufrechterhalten. Sein Vortrag beschrieb die Unterschiede zwischen der israelischen Besatzung des Westjordanlandes einerseits und der des Gazastreifens andererseits und die dabei wirksamen unterschiedlichen wirtschaftlichen Motive.
Im Westjordanland sei Ziel und Praxis der israelischen Führung die Einverleibung des gesamten besetzten und besiedelten Gebietes in das israelische Staatsgebiet. Im Westjordanland habe die israelische Armee, die seit 1973 bzw. 1982 keinen konventionellen Krieg mehr geführt habe und vermutlich auch in einem solchen keine besondere Schlagkraft aufbrächte, die politische und militärische Aufgabe, die einheimischen Palästinenser_innen zu kontrollieren und ihren Widerstand zu unterdrücken. Hever sprach von der israelischen Armee als “experts againt resistance in inequallity conflicts“, also von „Experten im Kampf gegen Widerstand in ungleichen Konflikten“. Die Besatzung im Westjordanland basiere auf hoch entwickelter Sicherheitstechnologie und biete damit privaten Sicherheitsfirmen ein Experimentierfeld für die Entwicklung neuer Sicherheitstechnologien, die der Kontrolle und Repression von Bürgern und Demonstranten dienten. Unter israelischer Besatzung könnten diese frei an den im Westjordanland lebenden Palästinenser_innen getestet werden und danach als solche lukrativ an Staaten, darunter auch EU-Staaten verkauft werden.
Hever nennt das Beispiel Brasiliens, wo Armenviertel (“Favelas“) von der brasilianischen Regierung mithilfe israelischer Militärtechnologie wie palästinensische Städte im Westjordanland kontrolliert und abgeriegelt werden könnten: “They put a checkpoint, put snipers and they just close it“. Tatsächlich sei der Hauptexport Israels die Sicherheitstechnologie. Ein großer Teil der israelischen Industrie sei somit an der Aufrechterhaltung der Besatzung und Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland interessiert.
Der Gazastreifen als Labor der israelischen Waffenindustrie
Diene das Westjordanland als Experimentierfeld für Produzenten von Sicherheitstechnologien, so sei der Gazastreifen ein Labor für die sehr eng mit dem Militär verwobene israelische Waffenindustrie. Shir Hever erklärte, dass die Armeelaufbahn in Israel relativ kurz sei, so dass sich viele ehemalige Offiziere für eine zweite Laufbahn als Waffenhändler entschieden. Als solche könnten sie sehr erfolgreich Geschäfte machen, da sie die Waffen aus eigenem Gebrauch kennen würden und damit authentisch werben könnten. Der Slogan “I was an officer, I fought people“ überzeuge international: zu den wichtigsten Kunden der israelischen Waffenindustrie zählten neben den USA, vor allem Indien, China, die Türkei, Singapur und Südafrika. Mit den US-amerikanischen Waffenfirmen verbinde die israelische Waffenindustrie eine standardisierte Kooperation: Kaufe man ein Flugzeug der USA, biete sich passgerecht ein israelischer Helm dazu an. Nach jedem der letzten drei israelischen Gaza-Kriege habe es eine internationale Waffenmesse in Israel gegeben, die weltweit Waffenlobbyisten angezogen hätte. Der wirtschaftliche Faktor für den israelischen Staat sei nicht zu unterschätzen: Waffen machten 11% des israelischen Exports aus.
Hever führte für die Wahl des Gazastreifens als Angriffsziel folgende Begründung an: Nach der 2. Intifada, dem Volksaufstand der Palästinenser_innen unter der israelischen Besatzung, wären die Militäraktionen der israelischen Armee, allen voran die Invasion des Libanon im Sommer 2006 misslungen. Die Armee sei in Misskredit geraten und die Regierung sei gescheitert. Deshalb habe die israelische Führung das Ziel auf den Gazastreifen verlagert, den Hever als “softer target“ beschrieb, da das Gebiet unter vollständiger Kontrolle und Belagerung Israels stünde und auch von ägyptischer Seite militärisch abgeriegelt sei. Der Gazastreifen diene seitdem, so Hever, als Labor für die Entwicklung neuer Waffentechniken und als Werbefläche für den internationalen Waffenmarkt, auf dem die israelischen Produkte als an lebenden Menschen getestet beworben und verkauft würden. “Gaza is a trade show for the weapons industry“. Gaza sei eine Messe für die Waffenindustrie, erklärte der israelische Wirtschaftswissenschaftler und führte dies auch am politischen Beispiel aus: Während des letzten Angriffs auf den Gazastreifen im Sommer 2014 habe die Hamas das Spiel des “Krieges“ erstmals nicht mitgemacht und Israel einen Waffenstillstand von 10 Jahren angeboten.. Israel habe dieses Angebot abgelehnt, da eine 10-jährige Waffenpause der Waffenindustrie schaden würde. Die militarisierte Wirtschaft Israels, so Hever, brauche die Garantie eines sich regelmäßig wiederholenden Krieges für die Entwicklung und Bewerbung ihrer Waffen. Es sei daher vorauszusehen, dass in zwei Jahren der Gazastreifen als “leichte Beute“ erneut angegriffen werde.
Shir Hever, der aktiv die BDS-Kampagne unterstützt, sagte am Ende der Veranstaltung, dass er als Israeli spreche und palästinensische Stimmen im deutschen Diskurs vermisse. Er habe mit seinem wissenschaftlichen Vortrag bezweckt, mit Zahlen und Fakten darzustellen, dass die Besatzung der palästinensischen Gebiete und die Massaker im Gazastreifen konkrete wirtschaftliche Ursachen haben. Doch solle nicht vergessen werden, dass allein im letzten Krieg gegen Gaza über 2000 Menschen ihr Leben verloren haben, damit die weltweit agierende, israelische Waffenindustrie ihre Produkte bewerben kann.